Gegen Trennung von Kirche und Staat – für die Unterscheidung von Politik und Religion

Veröffentlicht am 19.07.2013 in Politik

Pressebericht des Speyer-Kuriers (Gerhard Cantzler) über die Veranstaltung "Religion und Gesellschaft - welche Rolle spielt dabei der Staat?" mit Wolfgang Thierse MdB

SPD-Politiker Wolfgang Thierse in Schwetzingen zur Rolle der Politik zwischen Gesellschaft und Religion
Von Gerhard Cantzler

Schwetzingen- Als engagierten, bekennenden Christen und glühenden Verfechter des Zusammenwirkens von Kirche und Staat im Interesse der Freiheit in unserer Gesellschaft – so erlebten jetzt die zahlreichen Besucher einer Vortrags- und Diskussionsveranstaltung im dicht gefüllten Schwetzinger Kulturzentrum „Palais Hirsch“ den profilierten SPD-Politiker und derzeitigen Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages, Wolfgang Thierse. Auf Einladung des Arbeitskreises „Christen in der SPD“ in Baden-Württemberg war Thierse an diesem Tag in die Residenzstadt gekommen, um dem, gleich ihm, in seiner Kirche verankerten SPD-Bundestagskandidaten im Wahlkreis Bruchsal-Schwetzingen, Daniel Born – er ist in seiner Heimatgemeinde Waghäusel zugleich auch Mitglied im Evangelischen Kirchengemeinderat - an die Seite - vor allem aber erneut aufkommenden laizistischen und antikirchlichen Tendenzen in der eigenen Partei entschieden entgegenzutreten.

"Ich wünsche mir, dass die neuen, modernen Atheisten und Laizisten auch in der SPD ein wenig mehr Selbstkritik übten und sich daran erinnerten, dass Religionsfreiheit eines der wichtigsten Güter der Freiheit ist“, mahnte der gelernte Germanist und Kulturwissenschaftler, der in der Wendezeit im „Neuen Forum“ engagiert war. Als einer, der die Unfreiheit in der früheren DDR „am eigenen Leibe“ erfahren habe, zitierte er den Begründer der modernen Politikwissenschaften, den Philosophen Alexandre de Tocqueville, mit der aufrüttelnden Feststellung: „Despotismus kommt ohne Religion aus, Freiheit nicht - weil Freiheit darauf angewiesen ist, dass die Mitglieder ihrer Gesellschaft aus ihren unterschiedlichen weltanschaulichen Sichtweisen heraus immer wieder neu für die Freiheit eintreten“. Diese These macht sich auch Thierse immer wieder zu eigen, wenn er Toleranz gegenüber allen Weltanschauungen einfordert, solange sie ihre Grundsätze unter Verzicht auf jegliche Gewalt durchzusetzen bemüht seien.
Auch der in der „veröffentlichten Meinung“ immer wieder verbreiteten These von der zunehmenden Säkularisierung der westlichen Gesellschaften – auch der deutschen – trat Thierse mit der Feststellung entgegen, dass in Deutschland noch immer 24,7 Millionen Menschen der katholischen, 24,3 Millionen der evangelischen Kirche angehörten. Dazu kämen noch einmal rund eine Million Mitglieder anderer christlicher Kirchen. Zusammen mit den wachsenden Zahlen an Muslimen und – erfreulicherweise – auch Juden in unserer Gesellschaft sei Deutschland deshalb weltanschaulich allenfalls pluraler geworden, betonte Thierse – und das sei gut so.

Natürlich dürften Weltanschauungen nicht „als Idylle“ missverstanden werden, so der Referent, sondern als eine Herausforderung, die Thierse als „Toleranz“ definiert „Wer seinen eigenen Wahrheitsanspruch gegenüber anderen verficht, der muss auch ertragen, dass andere ihm gegenüber ihren Wahrheitsanspruch erheben“, stellte er fest. Deshalb gehörten religiöse Themen und Konflikte auch mitten hinein in die politische Diskussion. Als Beispiel erinnerte Thierse an die „Diskussion“ über das „Beschneidungsverbot“ aus dem letzten Jahr. Dabei sei es seines Erachtens um zwei Fragen gegangen: Wäre bei einer Bestandskraft des Urteils „eines rheinländischen Landrichters“ - so Thierse – jüdisches und muslimisches Leben in Deutschland überhaupt noch länger möglich geblieben und zum anderen, ob der Staat darüber befinden dürfe, was zum Glauben einer Religionsgemeinschaft gehöre. Hier habe der Bundestags mit seiner raschen, aber nach einer mit überaus großem Ernst geführten Diskussion die richtige Entscheidung getroffen. Denn 'Kindeswohl', so der SPD-Politiker, dürfe sich nicht allein an medizinischen und physischen Aspekten ausrichten, sondern müsse auch kulturelle und spirituelle Grundsätze in die Überlegungen mit einbeziehen. „Die 'aufgeklärte' Meinung, dass Religion nicht so wichtig ist“, befinde sich weltweit gesehen eindeutig in der Minderheit, stellte Thierse fest.

Seine Auffassung zum Verhältnis von Kirche und Staat fasste Thierse sodann in fünf Punkten zusammen:

1. Während in der DDR eine 'Erziehungsdiktatur' mit einer wissenschaftlich begründeten Weltanschauung geherrscht habe, sei das nichtlaizistische Staatswesen der Bundesrepublik Deutschland stets weltanschaulich neutral gewesen. Das sei auch nach seiner Auffassung der richtige Weg, den eine aufgeklärte Gesellschaft beschreiten müsse.

2. Für den Zusammenhalt einer pluralistisch geprägten Demokratie reiche es nicht aus, über eine gemeinsame Sprache und eine einheitliche Rechtsordnung zu verfügen. Vielmehr bedürfe es darüber hinaus auch einheitlicher Maßstäbe, Werte und Normen, die von allen akzeptiert und offensiv verteidigt werden müssten. Dazu gehörten gemeinsame Vorstellungen von der Freiheit und ihrer Kostbarkeit, sowie von der Würde des Menschen und ihrer Unantastbarkeit. Diese Werte bezeichnete Thierse als „das ethische Fundament einer gelingenden Demokratie“, die im Sinne des Staatsrechtlers Ernst-Wolfgang Böckenförde – er prägte den Satz: „Der Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“ - nur durch das aktive Eintreten jedes einzelnen Bürgers für diese Werte bewahrt werden könnten.

3. Im (deutschen) Staat gilt das Prinzip der Subsidiarität, d.h. der Staat überlässt bzw. überträgt Aufgaben den Bürgern. Deshalb sei auch der Sozialstaat nicht in erster Linie 'Staat'. Die staatliche Unterstützung caritativer Einrichtungen durch den Staat sei deshalb keine Unterstützung der Kirche, sondern diene vielmehr der Finanzierung von Aufgaben, die kirchliche Einrichtungen für den Staat erledigten. Dadurch entstehe ein großer kultureller Reichtum. So gesehen seien die Kirchenbeiträge der Gläubigen quasi eine indirekte Subventionierung des Staats.

4. Kirchen dürfen nicht darauf reduziert werden, die 'moralische Keule der Gesellschaft' zu sein, dürfe deshalb aber auch nicht darauf verzichten, 'moralische Instanz' zu sein. Auch in diesem fundamentalen Sinne habe Religion eine politische Dimension. Die Dimension der Nächstenliebe könne aber nur glaubwürdig gelebt werden, wenn sie ehrlich und ohne Hintergedanken gelebt werde. Deshalb gehörten Diakonie und Caritas im Sinne von Mildtätigkeit gegenüber Bedürftigen zu allen Religionen – auch und ganz besonders zum Islam und zum Judentum. Thierse: „Mögen auch viele Menschen den moralischen Weisungen der Kirchen heute nicht mehr folgen, so erwarten sie diese Weisungen dennoch von ihnen als einer Art „moralischer Orientierungshilfe“.

5. Die Kirchen können sich dem Dienst an der Allgemeinheit, an der Gesellschaft ,überhaupt nicht entziehen, denn der demokratische Staat lebt vom Engagement seiner Bürger und ihrer motivierenden Mitwirkung in der Gesellschaft. Darum sei auch die Aussage,die Mitgliederzahlen in den Kirchen seien zurückgegangen, nach Thieres Meinung nur „die halbe Wahrheit“. Vielmehr müsse man das Potential der Kirchen als ein „brückenbildendes Sozialkapital“ verstehen, wie es zuletzt ein Sozialwissenschaftler definiert hatte. Deshalb seien beide große Konfessionen in der Lage, auch in einer säkularisierten Gesellschaft Beiträge zur Integration zu leisten.Die SPD wäre deshalb geradezu „dumm“, wenn sie auf dieses Potential innerhalb der Partei verzichten würde.Denn immerhin würden sich 72 Prozent ihrer Mitglieder zu einer Religionsgemeinschaft bekennen und schon mit dem „Godesberger Programm“ im Jahr 1959 sei aus gutem Grund die Öffnung zu den Christen und ihren Kirchen eingeleitet worden. Und nicht umsonst führe das aktuelle Programm der Partei „Judentum und Christentum“, „Aufklärung“ und „Marxismus“ in genau dieser Rangfolge als Orientierungspunkte der Sozialdemokratie an.

Zum Ende seiner Ausführungen wies Wolfgang Thierse darauf hin, dass der grundlegende Dienst der Religionsgemeinschaften auch für die Gesellschaft von heute unentbehrlich sei. „In der Botschaft von der Gotteskindschaft Jesu geht es nämlich um die Gleichheit aller Menschen“, erklärte der Politiker. Die alleinige Reduzierung der Menschen auf die Rollen „Arbeitskraft“ und „Konsument“ stehe im Gegensatz zu diesem göttlichen Prinzip. Die Bibel aber bezeichnete Thierse als „den befreienden Einspruch“ gegen die Dominanz der Ökonomie, wie sie heute in der Bundesrepublik gelebt werde – ebenso wie sie in der DDR als Einspruch gegen den Absolutheitsanspruch des Politischen gewirkt habe. „Die demokratische Politik ist befreit davon, für das Heil der Menschen sorgen zu müssen - sie muss aber um das Wohl der Menschen besorgt sein“, schloss Wolfgang Thierse sein mit viel Beifall quittiertes Referat auf allerhöchstem inhaltlichem und sprachlichem Niveau.
In der anschließenden Diskussion trat der Politiker u.a. der aus dem Auditorium erhobenen Forderung nach Einführung des Streikrechts auch für die Mitarbeiter kirchlicher Unternehmen entgegen. „Diese Forderung ist allein dem Machtanspruch der Gewerkschaft ver.di geschuldet“, kritiserte Thierse und verwies darauf, dass die Mitarbeiter dieser Unternehmen in der Regel besser bezahlt würden als vergleichbar Tätige in der freien Wirtschaft. „Hier würde ich mir bei ver.di mehr Glaubwürdigkeit wünschen“. Wo es dennoch Grund zur Beschwerde gebe, empfahl Thierse der Diskutantin statt Streik den Weg des Dialogs zu suchen.

Auf die Frage, ob die Kirchen sich mit immer mehr KiTas und Altenheimen nicht auf die Dauer „verzettelten“, warnte Thierse vor der Erwartung, Private könnten solche Aufgaben sachgerechter oder gar menschlicher erfüllen.

„Laizisten in der SPD - Laizismus im Staat“ - auch dieses Thema kam noch einmal aufs Tapet. Hier verwies Thierse auf das Faktum, dass die Forderung nach strikter Trennung von Staat und Kirche in der DDR verwirklicht gewesen sei. „Ich habe aber nicht den Eindruck gehabt, dass die DDR damit gut gefahren ist“, dämpfte er die Erwartungen der Befürworter.
Blasphemie oder Kunst – ein anderes Thema, das seit der Vorstellung der neuesten, höchst umstrittenen CD von Bushido die Medien beherrscht. „Niemand kann belangt werden, solange er mit seinem Handeln nicht den Rechtsfrieden beschädigt“, stellte Thierse hierzu als seine Überzeugung heraus, fügte aber an, dass er schon sehr gespannt sei, ob die in dieser CD gebrauchten Texte vor Gericht verhandelt und dann in diesem Zusammenhang auch über den „Schutz der Menschenwürde für Politiker“ verhandelt werde.
Und schließlich – gleichfalls ein „heißes“ Thema in diesen hochsommerlichen Tagen – die „massenhafte Ausspähung“ deutscher Datennetze durch die USA. Hier bedauerte es Thierse, dass dieser Bereich rechtlich noch nicht zureichend geregelt sei. Auch müsse ein Abkommen zwischen der EU und den USA getroffen werden, das den Schutz der Persönlichkeitsrechte aller Bürgerinnen und Bürger sicherstelle.

Mit großer Offenheit beantwortete der Politiker alle Fragen, ehe er dann – bedankt vom Bundestagskandidaten Daniel Born, der auch die Moderation der Diskussionsrunden übernommen hatte - „im Tiefflug“ mit dem Auto zum Flughafen nach Frankfurt/Main musste, um zumindest noch den letzten Flieger nach Berlin zu erreichen – denn „morgen war wieder ein neuer Wahlkampftag“.
19.07.2013

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